„STUDIUM als REVOLUTION“

Volker Giencke

„STUDIUM als REVOLUTION“ _Was bleibt von der 1.Grazer Schule?

Gemeinhin wird unter uns Älteren in Graz die Kultur der Zeichensäle, ihre Bedeutung, gleichgesetzt mit dem, was unter „Grazer Schule der Architektur“ Mitte der 60-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts internationale Bedeutung und Anerkennung erfuhr.

Dies ist nur bedingt richtig.

Denn auch in den anschließenden 70-und 80-er Jahren waren die Zeichensäle ein integraler Bestandteil der Fakultät, um nicht zu sagen, ihr Aushängeschild. Heute noch zehrt die Grazer Fakultät davon, vor allem international und bei jenen, die in den letzen Jahren wenig oder gar nichts Neues aus Graz gehört haben.

Richtig ist, dass das, was in den Jahren zwischen 1963 und 1966 im AZ2 der Grazer Architekturfakultät passierte, im besten Sinne studentische Selbstverwaltung war, Selbststudium im Team, auf einem intellektuellem Niveau, das später keine Wiederholung oder Nachahmung erfuhr. Es war eine kleine Revolution unter Insidern der Architektur, international viel stärker beachtet als vom heimischen Publikum wahrgenommen. Nur die Wiener blickten gespannt nach Graz. „Die Wiener“, das waren damals Hans Hollein, dann lange nichts, denn die neue Wiener Architekturszene war akademisch Loos und Frank verpflichtet –erst durch Hollein kamen „die Amerikaner“, Neutra, Schindler und Kiesler dazu.

Es ist Tatsache, dass die österreichischen Hochschulen das Jahr 1968 fast verschliefen. Außer dem Geschrei „Auf nach Ghana“, wo der prozentuelle Anteil des Kulturbudgets höher war als hier und wahrscheinlich noch ist, wies wenig auf revolutionäres Gedankengut hin, während in Deutschland und Frankreich das Land brannte. Präsident de Gaulle, ein hoch dekorierter ehemaliger General des 2.Weltkriegs, führte ein selbstherrliches Regime, solange bis das Quatier Latin und der Boulevard Saint Michel in Paris zum Aufmarschgebiet der Studenten und Arbeiter wurden. Nirgends in Europa verbanden sich Studenten und Arbeiter zum gemeinsamen Protest, wie es in Frankreich geschah. Später vielleicht in Polen, in der CSSR, der DDR, Ungarn und den baltischen Ländern. In Österreich jedenfalls nicht. Die breite Gesellschaft kennt hier keine Kultur, und die Politik hier hat keine Kultur. Diesbezüglich hat sich in den letzten 40 Jahren wenig verändert, viele behaupten sogar, die Situation hätte sich verschlechtert. Ich meine, sie blieb Kultur- und Architektur resistent.

Aber 1968 war 1963, von 1963 (und das war die Zeit, in der –fast- alles begann ) -noch weit entfernt. An der Architekturfakultät ging es wenigen Studenten um eine inhaltliche Veränderung. Das Studium als bloße Wissensvermittlung wurde schonungslos hinterfragt. Wissen war Voraussetzung, Intellekt Bedingung, Bauhaus kein unbedingtes Vorbild. „Konzepte statt Rezepte“ hieß die Devise. Die Studenten des Zeichensaal 2, des legendären AZ2, waren damit nicht ganz alleine. Friedrich St. Florian und Raimund Abraham, „Grazer“, und eine Studentengeneration vor diesen, waren 1963 schon in den USA. Ob sie als Informanten dienten, entzieht sich meiner Kenntnis _es ist aber zumindest nicht auszuschließen.

Hans Hollein, damals schon befreundet mit Philipp Johnson und nahe daran Archigram, die“verrückten Engländer“, zu inhalieren, war wahrscheinlich noch besser informiert über das Architekturgeschehen weltweit _als die Grazer Szene. Weltweit hieß damals USA und Großbritannien. Man war begierig nach Information von außen _und Information war fast alles. Dieses unbedingte Nach-Außen-Orientieren –das heute der Szene fast völlig abgeht-, war wohl auch der Grund, dass die Grazer Schule später viel stärker als solche vom Ausland wahrgenommen wurde, als in und von der eigenen Stadt. Obwohl etliche Projekte mit der Veränderung von Graz zu tun hatten. Und obwohl Domenig &Huth als praktizierende Architekten teilweise ähnliches Gedankengut in der wirklichen Welt des Bauens verbreiteten. Das hatte wiederum damit zu tun, dass viele AZ2 Studenten ausschließlich in diesem Büro mitarbeiteten, vor allem an Wettbewerben (Ragnitz ist ein Hinweis).

Ausland war damals auch Wien. Dort hatte Hans Hollein, damals noch keine 30, quasi im Alleingang, und -wenn in Kooperation, dann mit der bildenden Kunst, Künstlern wie Walter Pichler und weniger mit Architektenkollegen-, das Feld bestellt, mit einer neuen, teils konzeptuellen, teils plastischen Architektur.

HANS HOLLEIN hatte mit SOKRATIS DIMITRIOU, blitzgescheit und wenig später, noch vor 1968, Prof. für Kunstgeschichte an der Architekturfakultät der TU Graz, mit GÜNTHER FEUERSTEIN, dem Doyen der österreichischen Architekturgeschichte und -philosophie, in diesem Jahr wurde er 85 und ist jetzt Gastprofessor am Studio3 in Innsbruck, das ist das Institut, das ich leite, und mit GUSTAV PEICHL, dem Architekten, der später aus Liebe zum ORF und seinem Generaldirektor, alle Länderstudios neu bauen wird, die redaktionelle Leitung der Zeitschrift „Bau“ übernommen. Der „Bau“ wird für wenige Jahre zum revolutionärem Sprachrohr der österreichischen Architektur _oder richtiger- zum österreichischen Sprachrohr einer evolutionären Architektur. 1966 übernimmt HANS HOLLEIN nach Streit mit SOKRATIS DIMITRIOU die Chefredaktion. Die Studenten der GRAZER SCHULE, werden 1969 als Absolventen ein Heft des „Bau“ gestalten. Denjenigen, die den Ruhm der „Grazer Schule“ über den eingeweihten Rahmen sprichwörtlich hinaus in die Welt getragen haben, wird zumindest diese Anerkennung zuteil. Was das Hinausgehen in die weite Welt betrifft, das 1965 noch mit der Etikette „Abenteuer“ versehen war, zitiere ich BERNHARD HAFNER, Mastermind der evolutionären Architektur-Bewegung und Gastredakteur der Graz-Ausgabe: ...RIEDER ging 1985 nach Paris, STEINER nach Algerien; HAFNER 1966 in die USA, wo jetzt noch CAPRA, GERNGROSS, HÖNIG und in Kürze auch RICHTER an der School of Architecture and Urban Planning der UCLA arbeiten. FREY ist in London, AUST in San Francisco, PICHLER in NY. Frühere Kollege, jetzt noch in Graz, werden in wenigen Jahren Vertreter jener Gesinnung sein, die wir vor und seit Jahren kritisierten…”. Auch darin sollte HAFNER Recht behalten.

Graz ist dafür bekannt, dass seine Studenten immer besser gewesen sein sollen als seine Professoren. Zu dieser ketzerischen, aber möglicherweise nicht immer unrichtigen Ansicht hat die Atmosphäre in den Zeichensälen sehr stark beigetragen. Ich kann mich erinnern, wie Prof. Schuster, der eigentlich von den meisten Studenten allein wegen seiner ethischen Haltung zur Architektur geschätzt wurde, im weißen Mantel durch den Zeichensaal marschierte, sie mehr oder minder inspizierte. Er tat das einmal und nie wieder. Die Vorstellung, von Institutsseite her einen Zeichensaal dirigieren zu können oder auch nur Einfluss auf Inhalt der Studentenarbeiten im Zeichensaal zu nehmen, hat in Graz nie funktioniert. Das war gut so, weil dadurch die Zeichensäle als selbst organisierte Strukturen zur wirklichen Nuklei der Architektur wurden. Freilich gab es Entwicklungen hin zu Häuslichkeit und Kartenspiel, aber das waren die Ausnahmen, und wenn sie passierten, dann eigentlich nur für kurze Zeit oder eben „daneben“. Grundsätzlich wurde heftig diskutiert und engagiert gearbeitet. Dass dabei der zwischenmenschliche Bezug nicht zu kurz kam, zeigen alleine die vielen Zeichensaalbekanntschaften, die ein ganzes Leben lang halten.

Professoren und Assistenten hatten in Zeichensälen nichts verloren. Im Gegenteil, so wurden Projekte von "Zeichensaalbewohnern" zuerst innerhalb des Zeichensaals diskutiert und korrigiert, bevor man damit an das Institut zur Korrektur ging. Und die Zeichensaal-Korrektur war meistens viel wichtiger als die Korrektur des Institutes.

Die Zeichensäle dienten aber auch als psychotherapeutische Institutionen, als temporäres Obdachlosenasyl, als hervorragende Plätze für Feste und die Ausbildung von superben Köchen und Köchinnen. Das alljährliche Archi-Gschnas hatte einen festen Platz im Kalender der lokalen Polizeidirektion. Die Zeichensäle waren Orte des Lebendigen.